Die Fahrmaschine by SE concept bikes
Text: Ralf Steinert
Bilder: SSSZphoto.com

Das Urteil war überraschend, aber nicht unbedingt positiv, und dazu noch aus berufenem Munde. Die Motorrad-Legende Hein Gericke persönlich hatte sich in die Optik von BMWs lässigsten Boxer verguckt, fuhr zum Händler und kehrte mit einer R NineT Scrambler zurück. Zu Hause angekommen, verkündete er reichlich irritiert, dass er anscheinend das Motorradfahren verlernt habe, und mottete daraufhin den Neuerwerb im hintersten Winkel seiner Garage ein.
Ein Jahr später wurde es Hein in seiner Garage zu eng, und er überließ den ungeliebten Scrambler seinem ältesten Sohn Björn, ein Petrolhead von Kindesbeinen an und Gründer/Inhaber des innovativen Fashionlabels g-lab Supreme Weatherwear. Erfreut trieb Björn die unverhoffte Beute ein wenig über Land und durch die Stadt, um schließlich seinen Vater anzurufen: „Soll ich dir mal was sagen“, fragte er. „Ich glaube, ich kann auch nicht mehr Motorrad fahren.“
Natürlich friert eher die Hölle zu, als dass ein Gericke irgendein Zweirad nicht mehr beherrscht. Vielmehr lag es an dem Fahrverhalten der R NineT, das so konträr zu der Idee eines wendigen Scramblers stand: unpräzise, teigig-träge, kein Feedback vom Vorderrad, ein gefühlloses Heck und eine unerfreulich inaktive Fahrposition. Ein Wechsel von der Metzeler-Serienbereifung auf die bewährten, grobstolligen Conti TKC 80 brachte zwar eine leichte Verbesserung, aber das Handling zauberte Björn immer noch kein Grinsen ins Gesicht.
Dass der BMW eine Rückkehr unter die Abdeckplane erspart blieb, ist zu einem der Tatsache zu verdanken, dass Björn deutlich mehr Garagenplatz zur Verfügung steht und zum anderen, dass er genau für solche Härtefälle einen „Partner in crime“ hat: Dietmar Franzen und sein Unternehmen SE Concept Bikes/Sport Evolution in Koblenz. Die beiden haben sich bereits 2007 kennen und schätzen gelernt, als g-lab Racing mit Björns Company als Hauptsponsor zusammen mit Franzen als Teammanager in der Saison 2008 auf einer Triumph 675 Daytona Champion in der Internationalen Deutschen Meisterschaft (IDM) wurde und damit den ersten internationalen Titel für den englischen Motorradbauer seit dem Beginn der neuen Ära einfuhr.
Seither haben die beiden zusammen einige großartige Projektbikes auf die (meist) 17-Zöller gestellt – Björn als Ideengeber und oberste Instanz in Sachen Geschmack, Dietmar mit seiner hohen technischen Kompetenz, neugierig und mit freiem Geist und einem seltenen Gespür für mechanische Ästhetik. Die beiden bilden eine perfekte Symbiose, denn ungeachtet der völlig unterschiedlichen Geschäftsfelder haben ihre Produkte vieles gemeinsam: ihr Aufbau ist pur und minimalistisch, sie sind höchst funktional und besitzen eine zeitlose Optik.
Die einzige Problematik in der Frühzeit der Zusammenarbeit bestand in einer ganz speziellen Hörschwäche Franzens. Worte und Aussagen wie „fette Drehmomententfaltung im Drehzahlkeller“ oder „optimale Fahrbarkeit im Teillastbereich bei weicher Gasnahme“ nahm er akustisch so wenig wahr, als wären sie im Ultraschall-Frequenzbereich ausgesprochen worden, oder aber er übersetzte sie kognitiv in Anweisungen wie „Maximale Spitzenleistung bei schwindelerregenden Kolbengeschwindigkeiten“ oder „Vernachlässigung sämtlicher Fahrzustände zwischen Motor aus und Vollgas“.
Dies gipfelte bei dem ersten Gemeinschaftsprojekt in der 187 kg leichten „Triple X“, einer bisher mit 171 Hinterrad-PS ungeschlagen leistungsstarken und radikalen Triumph Speed Triple 1050, die damals die Cover zahlreicher internationaler Motorradmagazine zierte. Aber bereits mit dem nächsten Projektbike, der schneeweißen „Avalanche“, konnte Björn nahezu alle Kästchen in seinem umfangreichen Lastenheft abhaken. Dieser wunderschöne und aufwendige Umbau einer KTM 990 Adventure war alles andere als ein seelenloser, langweiliger Allrounder, sondern ein Bike, dass in sämtlichen Disziplinen auf sehr hohem Level performte – auf dem Weg ins Büro genauso wie beim „Show & Shine“, beim lustvollen Andrücken in kurvenreichem Revier und Kilometerfressen auf der Autobahn, und auch beim ambitionierten Zeitenfeilen auf abgesperrten Rundstrecken: die Blaupause der „Fahrmaschine“ war geschaffen.
Um die BMW Scrambler in dieselbe konzeptionelle Form zu gießen, wurde sie im ersten Schritt von ihren Überhängen und überflüssigen Anbauteilen befreit. Der klassische Rundscheinwerfer musste der knubblig-stumpfen Scheinwerfermaske von JvB weichen, die gesamte Airbox flog raus und wurde durch dicke K&N-Luftfilter ersetzt. Anstelle der optisch langgestreckten Original-Auspuffanlage entledigte sich der Twin seiner Abgase nun via Titan-Racingkrümmer von Akrapovic und kurzen Spark-Endtöpfen, ebenfalls aus dem edlen Leichtmetall. Überflüssig zu erwähnen, unter was für einem furios-grandiosen Klangspektakel der entkorkte Boxer fortan seine Frischluft einsaugt und als heißen Abgasstrahl wieder ausatmet …
Die hintere Hilfsrahmenstrebe samt Sozius-Fußrastenanlage wanderte in die Altmetalltonne, eine leichte Litihum-Ionen-Batterie erhielt mithilfe einer Halterung aus dem Haus Sport-Evolution einen schwerpunktgünstigen Platz unter dem Tank. Ebenfalls von SE stammen die Seitendeckel, der kurze Vorderradkotflügel, der Kennzeichenhalter und die gesamte Heck-Unterschale für die abgepolsterte Scrambler-Sitzbank. Die Conti-TKC 80 mussten einem Satz Pirelli Scorpion Rally STR weichen.
Unterstrichen wird dieser deutlich versammeltere Auftritt durch Björns spezielles Farbkonzept mit dem großen Tank als zentrales Anschauungsobjekt – alles andere erhielt eine großzügige Ladung an schwarzer Pulverbeschichtung. Die pure Alu-Optik des Spritbehälters gefiel Björn nach ein paar Schichten mattem Klarlack prinzipiell gut, die Formgebung hingegen widersprach seinem persönlichen Gefühl für Ästhetik: „Die Bananenform gefiel mir überhaupt nicht, aber eine Neuanfertigung wäre deutlich zu überambitioniert gewesen. Also sind wir der Hecklinie gefolgt und haben den unteren Teil des Tanks schwarz abgesetzt“, erklärt Björn. „Das Auge ordnet diesen Bereich nun dem Unterbau zu und der Tank erhält so eine klassische Optik. Und durch die rote Banderole wirkt er dazu noch deutlich kürzer und schlanker.“
Der Lack der Tankbanderole ist übrigens ein originales Ferrari-Rot – allerdings von einem FF-Modell. Dies ist durch mit einem Augenzwinkern zu sehen, denn dieser vielseitige, 4-sitzige Allrad-Sportwagen mit seiner ungewöhnlichen Shooting-Break-Karosserie weist konzeptionell ziemliche Ähnlichkeiten mit Björns Vorstellung von seiner zweirädrigen Fahrmaschine auf …
Mittlerweile hatte der große Flat-Twin bei SE eine dezente, aber effektive Leistungskur erhalten. Die Zylinderköpfe wurden in Dietmar Franzens kundigen Händen sorgsam bearbeitet, die Nockenwellen bekamen für eine bessere Füllung und mehr Antritt aus niedrigen Drehzahlen ein neues, spezielles Nockenprofil, und schließlich wurde das Motormanagement per Racing-Modul von Rapid-Bike zylinderselektiv auf seine neue Peripherie abgestimmt. Das Ergebnis: mit ca. 125 PS ein deutliches Plus an Power gegenüber dem Serientriebwerk. Dazu ein brutal kräftiger Antritt, ein sauberes Ansprechverhalten und eine für einen BMW-Boxermotor vergleichsweise glatte Drehmomentkurve.
Der zusammen mit dem Rapid-Bike-Modul installierte Schaltautomat stellte Björn vor unerwartete Schwierigkeiten. „Ein Quickshifter macht für mich nur Sinn in Kombination mit einem umgedrehten Racing-Schaltschema“, meint der passionierte Rennsportler. „Aber das war leider nicht so einfach zu realisieren. In den Shops der einschlägigen Aftermarket-Firmen war so etwas nämlich nicht zu finden …“ Schließlich stieß Björn bei dem japanischen Hersteller Sato-Racing auf eine filigrane GP-Rastenanlage, die eigentlich nur für die normale R NineT angeboten wird, aber nach einiger, fummeliger Umbauarbeit auch auf dem Scrambler-Modell funktionierte.
Jetzt, wo das Team Gericke/Franzen mit Motor, Optik und Anbauteilen auf einem guten Weg waren, war es an der Zeit, sich um die größte Baustelle zu kümmern: dem Scrambler sein bockig-steifes Handling auszutreiben, zumal die Sitzposition mit der im Tankbereich stark abgepolsterten Sitzbank und den Wunderlich-Lenkererhöhungen jetzt eher an eine Enduro erinnerte – was einer bessere Kontrolle und einem authentischen Scrambler-Feeling wegen auch genauso geplant war. Allerdings musste nun um so mehr Gewicht nach vorn gebracht werden. Der erste Versuch mit einer Wunderlich-Paraleverstrebe in höchster Position und einem Wilbers-Competition-Federbein ging schon die richtige Richtung, aber Björn spürte deutlich, dass es fahrwerksseitig noch ordentlich Luft nach oben gab – wobei oben mit der Firma Öhlins gleichzusetzen ist.
Ihr rennsportliches TTX-Federbein bieten die Schweden leider nicht für die R NineT Scrambler an, aber Dietmar Franzen nahm sich ein Exemplar der GS-Modell zur Brust und passte die Länge und die Settings an. Lediglich eine Blende und die sowieso überflüssige hydraulische Verstellung der Federvorspannung blieben dabei aus Platzgründen auf der Strecke. An der Front wäre es ein leichtes gewesen, eine entsprechende Öhlins-Rennsportgabel in die Brücken zu stecken, aber Björn wollte die klassisch-dezente Optik mit den Faltenbälgen bedingt bewahrt haben, also erhielt die Gabel das NIX22-Cartridge-Kit (Öhlins FKS 211) und wurde einige Zentimeter durchgesteckt.
Die Auswirkungen auf die Fahrwerksgeometrie nach den Modifikationen waren gravierend: ein durch das um 30 mm höhere Heck und die tiefere Front-Fahrposition steilerer Lenkkopfwinkel, eine veränderte Sitzposition und eine deutliche Verlagerung des Massenschwerpunkts nach vorn und unten. So gravierend, dass sich zwangsläufig das Handling eklatant veränderte: die langgezogene, geschwungene Rheinbrücken-Rampe auf Björn Gerickes Weg ins Büro – familienintern „die Eau Rouge“ genannt – nahm er direkt im ersten Ansatz in einem kontrollierten, sauberen Vollgas-Slide.
„Das Motorrad lenkt jetzt spielerisch und ultrapräzise ein, ist dabei aber stabil und nicht nervös, und das Feedback von Front und Heck ist umwerfend transparent“, meint Björn. „Die Performance der Öhlins-Federelemente ist beeindruckend. Ich hatte eigentlich gar mehr bewusst daran gedacht, was da jetzt zwischen den Rädern und dem Rahmen arbeitet – wie bei einer Art Blindverkostung. Aber der Unterschied war der Wahnsinn. Du spürst genau, was die Reifen gerade tun und die Reserven sind fast unerschöpflich!“
Seine letzte Prüfung hat das Bike unmittelbar vor sich. Im Oktober geht es für zwei Tage ins tschechische Brünn, wo die Fahrmaschine im Automotodrom Brno seine Rennstreckentauglichkeit prüfen wird. Ein Satz 17-Zoll-Aluräder mit neuen Bremsscheiben und klebrigen Pirelli Diablo Superbike-Slicks stehen schon dafür schon bereit.
Sollte die Fahrmaschine diesen finalen Test erfolgreich und unbeschadet überstehen, könnte Björn allerdings ein Unheil drohen. Nämlich, dass Vater Hein davon Wind bekommt und seine verschmähte R NineT Scrambler wieder zurückhaben will …


